Abstracts der Vorträge

Ringvorlesung Gewalt und Geschlechterverhältnisse – Nicht/Sichtbarkeiten, Ausgrenzungen, Interventionen (Sommersemester 2023)

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(Allgemeine Informationen zur Ringvorlesung)


Birgit Sauer: Der Staat als geschlechtsspezifisches Gewaltverhältnis. Intersektionale Perspektiven (14.3.2023)

Abstract: Feministische Wissenschaftlerinnen weisen seit den 1970er Jahren darauf hin, dass der Staat nicht neutral ist, dass er nicht Ausdruck des Gemeinwohls ist, sondern dass er patriarchalisch ist. Staatliche Institutionen sind durch Geschlechterbinarität sowie eine hierarchische Geschlechterdifferenzierung gekennzeichnet. Mit der Entstehung moderner staatlicher Verwaltungen, Institutionen und Normen wurden freilich außer Geschlecht weitere Ungleichheitsverhältnisse in den Staat eingeschrieben: Produktions- und Klassenverhältnisse, heteronormative Privilegienstrukturen sowie ethnisierte und rassifizierte Ungleichheitsstrukturen. All diese Strukturen beuten und schließen aus und enteignen bestimmte Menschengruppen ihrer Rechte und ihrer Körper. Moderne westliche staatliche Institutionen sind gewaltförmig. Der Staat ist daher als ein geschlechtsspezifisches Gewaltverhältnis zu bezeichnen.

Der Vortrag wird zunächst ein Verständnis moderner westlicher Staatlichkeit entwickeln, das über den Staatsapparat hinausgeht und den Staat als umkämpftes strategisches Feld begreift, als materielle Verdichtung von intersektional vergeschlechtlichten Herrschaftsverhältnissen konzeptualisiert. In diesen Kämpfen um Staatlichkeit haben sich Vorstellungen von der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit, d.h. die Delegation der Verfügungsgewalt des Haushaltsvorstandes über die privatisierten Haushaltsmitglieder, von Eigenem und Fremdem und der gewaltvollen Unterwerfung der als „Anders“ Konzipierten jenseits des (aber auch im) eigenen Territoriums in die Architektur des Staates eingeschrieben. In einem weiteren Schritt werde ich die intersektionale Dimension dieses staatlichen Gewaltverhältnisses – auch in historischer Perspektive – sichtbar machen.

Birgit Sauer ist em. Professorin für Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität Wien. Ihre Forschungen beschäftigen sich mit Rechtspopulismus und Geschlecht, Politik, Gefühle und Affekte, politischer Repräsentation von Frauen und vergleichende Geschlechterpolitiken. Aktuelle Projekte: „POP-MED. Political and Media Populism: ‘Refugee Crisis’ in Slovenia and Austria"; „CURE – Cultures of rejection“ und „MiCREATE – Migrant Children and Communities in a Transforming Europe“. Aktuelle Publikationen: Gender Equality in Politics. Implementing Party Quotas in Germany and Austria, Cham: Springer 2020, gemeinsam mit Petra Ahrens, Katja Chmilewski und Sabine Lang; Governing Affects. Neoliberalism, Neo-Bureaucracies, and Service Work, New York/London: Routledge 2020, gemeinsam mit Otto Penz.

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Paul*A Helfritzsch: Trotz der stillen Gewalt! Trotzt dem Vergessen der Geschichten und trotzt der Verstümmelung der Gefühle (28.3.2023)

Abstract: Trotz. Eine Abwehrhaltung, ein Widerstand, ganz sicher aber irrational, kindisch, eine Störung des Gewohnten. Doch wessen Gewohnheit wird hier durchkreuzt? Es ist die der herrschenden Strukturen, der Heteronormativität, der Geschlechterbinarität, des Patriarchats, des Kolonialismus, des Rassismus, der Intersektionen aus so viele unterdrückenden und gewaltvollen Strukturen, die die emotionale Reaktion des Trotzes aber auch andere Gefühle delegitimieren und so auch ihre Fühlbarkeit selbst einschränken. Denn es wird neben dem Gefühl auch die Möglichkeit delegitimiert, sich im Umgang mit ihm zu schulen, es zu verstehen und so zu entdecken, was ein Gefühl, was "the very flesh of time" (Sara Ahmed) uns über die Situation in der wir leben, die Geschichte und die Veränderbarkeit des ganzen zeigen kann. Am Beispiel des Trotzes und des Hasses möchte ich in dieser Sitzung zeigen, welche stillen gewaltförmigen Ausschlüsse sowohl den Gefühlen als auch den Geschichten von Menschen durch Heteronormativität, Geschlechterbinarität und Kolonialität widerfahren sind.

Dr. phil Paul*A Helfritzsch studierte Philosophie und Psychologie. Sie*r wurde 2020 an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena mit der Arbeit „Als Andere unter Anderen“ promoviert und war dort bis zum Sommersemester 2021 Lehrbeauftragte*r. Seit Mai 2021 lehrt und forscht sie*r als Post-Doc an der Universität Wien im Bereich der Emotionstheorie, zu Fragen der Sozialphilosophie und der Geschlechtertheorien, sowie zu Aspekten widerständiger Bildung.

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Katharina Beclin: „Femizid“ aus rechtswissenschaftlicher und kriminologischer Perspektive (25.4.2023)

Abstract: Das Wort „Femizid“ hat mittlerweile nicht nur Eingang in die Medienberichterstattung gefunden, sondern auch in wissenschaftliche Publikationen. Eine allgemein anerkannte Definition dieses Begriffes konnte sich allerdings bis jetzt nicht etablieren. Es stellt sich die Frage, ob „Femizid“ nicht eher nach wie vor ein politisches Schlagwort ist, oder ob doch eine Definition gelingen kann, der neben dem Begriff „Frauenmord“ eine eigenständige Bedeutung zukommt. Zur Klärung dieser Frage soll untersucht werden, welche rechtswissenschaftlichen und kriminologischen Argumente für eine Sonderstellung bestimmter Mordphänomene als „Femizide“ innerhalb der Gesamtheit aller Frauenmorde sprechen könnten.

Katharina Beclin ist Assistenzprofessorin für Kriminologie an der juridischen Fakultät der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Genderbezüge in der Kriminologie, insbesondere Gewalt im sozialen Nahraum, Sexualdelinquenz und Menschenhandel, sowie Rechtstatsachenforschung zu Strafverfahren. Einschlägige Publikationen sind: „‚Aussage gegen Aussage‘ – häufige Pattstellung bei Strafverfolgung häuslicher Gewalt?“ (juridikum 3/2014, 360-372); „Femizid“? – Ein Plädoyer für eine zielorientierte Begriffsdefinition - in juridikum nr 2/2022, 219 – 225.

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Brigitta Keintzel: Sprache als Praxis des feministischen Widerstands versus Hassrede als Praxis des misogynen Sprechens (9.5.2023)

Abstract: Sprache bildet nicht nur Herrschaftskonzepte ab, sie trägt auch dazu bei, dass Wahrnehmungen und Beurteilungen von dem, was der Fall ist, sich verändern. Das Verständnis von Wirklichkeit wird nicht durch verborgene Autoritäten, Algorithmen oder durch falsche Vorannahmen, sondern durch kommunikative Prozesse gesteuert. Diese stehen im Zeichen der Ermächtigung, aber sie stehen auch im Zeichen der Herabsetzung und der Verunglimpfung. Ein misogynes Sprechen gegenüber vulnerablen Gruppen basiert auf geschlechterhierarchischen Voraussetzungen, die vermeintlich feststehende Differenzen zwischen »dem« Mann und »der« Frau als rhetorische Mittel für aggressive bis kriegerische Strategien benützen. Feministische Sprachpraxis kann hier eine entscheidende Hilfestellung bieten. Sie leistet einer psychologischen Verknüpfung zwischen weiblicher Empathie und männlichen Herrschaftsvorstellungen ebenso Widerstand wie einer »Logik der Misogynie«, die das Ziel verfolgt, Andersdenkende in eine Enklave des Stillstands, des Schweigens und des Sterbens zu verbannen.

Brigitta Keintzel ist Universitätslektorin und war Elise-Richter Fellow am Institut für Philosophie der Universität Wien. Sie ist Gastherausgeberin der Levinas Studies 15 zum Thema: »Levinas in Dialogue«. Aktuell schreibt sie eine Monographie zum Thema: Warum wir den Widerstand für das Denken und Handelns benötigen (Hobbes, Kant, Hegel, Levinas) Ein Schwerpunkt ihrer Publikation bildet das Spannungsverhältnis zwischen Sehen und Hören und die Konsequenzen für genderspezifische Problemstellungen in Epistemologie und Ethik. 

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Andrea Kraus: Perspektiven auf Gewalt, Geschlecht, Gewaltprävention und Selbstverteidigung (23.5.2023)

Abstract: Dieser Vortrag wird sich mit Studien und Fakten in Bezug auf alltägliche Gewalt und Geschlecht befassen. Was sind „typische“ Gefahrenorte und Gewaltsituationen, denen Menschen im europäischen Raum ausgesetzt sind? Es werden außerdem unterschiedliche Zugänge vorhandener Gewaltpräventions- und Selbstverteidigungskonzepte beleuchtet. Die Fragen „Was bedeuten die Phänomene Gewalt, Gewaltprävention, Selbstverteidigung und deren Zusammenhang zu Geschlecht“ wurden im Rahmen einer qualitativen Dissertationsstudie an unterschiedliche Expertinnen und Experten gerichtet?

Feministische Selbstverteidigungskonzepte befassen sich beispielsweise damit, die Normalität von Gewalt in unserer Gesellschaft sichtbar zu machen und geschlechtersensible Präventionsstrategien dagegen zu entwickeln. Gewaltpräventionsangebote in der Schule sind nur dann erfolgreich, wenn das Gesamtsystem Schule mit allen Beteiligten (Schüler*innen, Lehrpersonen, Eltern, Direktion) miteinbezogen wird. Militärische oder polizeiliche Gewaltprävention setzt sich häufig durch ein „show of force“ durch, bei dem die eigene Macht gezeigt, aber nicht unbedingt physische Gewalt eingesetzt wird.

Auf Basis von hermeneutischen Analysen, Expert*innenwissen und dessen Deutung konnten im Rahmen der eigenen qualitativen Studie erweiterte Modelle für Gewaltprävention und geschlechtersensible Selbstverteidigung entwickelt werden, die in der Vorlesung vorgestellt und diskutiert werden.

MMag.a Dr.in Andrea Kraus ist Lehrerin für Bewegung und Sport und Deutsch am Sportgymnasium St. Pölten, Josefstraße; Universitätslektorin am Institut für Sportwissenschaft der Universität Wien (Geschlechtersensibles Unterrichten, Selbstverteidigung und Zweikampfsport); und Mitglied des Frauenforum Bewegung und Sport

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Terminänderung! Rita Laura Segato: Femicide – The female body as a territory of war (16.6.2023, 16:45)

Terminänderung: Der Vortrag wurde auf 16.6.2023 um 16:45 verschoben (vorher: 13.6.2023, 18:30)!

Vortrag auf Englisch

Abstract: In recent decades, marked by neoliberalism and increasingly authoritarian transformations in societies and government, global violence against women has also increased dramatically. A “global war on women” marks a political shift in patriarchal understanding of power.  Women’s killings cannot be considered in private and sexual, but in political categories, with the aim of perpetuating the claims to power of male alliances.

Rita Laura Segato is an Argentinian-Brazilian academic who has been called ‘one of Latin America's most celebrated feminist anthropologists’ and ‘one of the most lucid feminist thinkers of this era’. She is known especially for her research on gender in Indigenous villages and Latin American communities, violence against women and the relationships between gender, racism and colonialism. One of her specialist areas is the study of gender violence. Recent publications include: La crítica de la colonialidad en ocho ensayos. Prometeo Libros. 2016; La guerra contra las mujeres. Tinta Limón - Traficantes de sueños. 2017; Mujeres intelectuales: feminismos y liberación en América Latina y el Caribe. Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales – CLACSO. 2017 (co-authored); Más allá del decenio de los pueblos afrodescendientes. Consejo Latinoamericano de Ciencias Sociales – CLACSO. 2017 (co-authored); Contrapedagogías de la crueldad. Prometeo Libros. 2018.

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