Care-Flechtungen – Kämpfe verbinden: Ein (Praktikums-)Bericht aus maiz

Am 29.10.2022 gingen organisierte und nicht-organisierte Care-Arbeiter*innen sowie ihre Verbündeten aus dem deutschprachigen Raum einer Einladung des Vereins maiz und dessen Schwesterorganisation daskollektiv nach. Sandra García Fernández und Sarah Demlehner haben einen Bericht dazu geschrieben.

Dieser Text wurde von Sarah Demlehner und Sandra García Fernández verfasst. Lektoriert von Sushila Mesquita und dem maiz-Team.

Am 29.10.2022 gingen organisierte und nicht-organisierte Care-Arbeiter*innen sowie ihre Verbündeten aus dem deutschprachigen Raum einer Einladung des Vereins maiz und dessen Schwesterorganisation daskollektiv nach. Wir, Sandra1 und Sarah2, waren als Praktikant*innen bei den Vorbereitungen und der Durchführung dieser Veranstaltung beteiligt und berichten hier von unseren Eindrücken und Erfahrungen. Als Gender-Studies-Studierende sind wir der engen Kooperation des Vereins maiz mit dem Referat Genderforschung der Universität Wien gefolgt und haben im September 2022 ein Praktikum bei maiz begonnen. Wir erhofften uns einen tieferen Einblick in die Geschichte und Arbeitsweise des Vereins, der es sich seit beinahe 30 Jahren zur Aufgabe macht, Widerstand gegen eine zunehmende Dominanz neoliberaler, anti-feministischer und rassistischer Ideologien zu leisten.

Mitte der 1990er-Jahre, in einer Zeit, wo Nazi-Schlägertrupps in Österreich in den Straßen umherzogen und Schwarz-Blau I kurz vor der Türe stand, wurde maiz von Migrant*innen für Migrant*innen im Stadtzentrum von Linz (Oberösterreich) gegründet. In diesem gesellschaftlichen Klima Räume zu schaffen, die selbstorganisiertes Handeln und die Zentrierung marginalisierter Perspektiven und Lebensrealitäten ermöglichen, ist – nach wie vor – revolutionär.3 maiz geht es um eine emanzipatorische Stärkung nach innen und eine sichtbare Raumeinnahme nach außen. Für eine nachhaltige, öffentlichkeitswirksame Organisierung braucht es auch gemeinsame Analysen, die bei den eigenen Lebensrealitäten als Migrant*innen (in Linz, Österreich und darüber hinaus) anfangen.

Am 29.10.2022 wurde zu einer solchen gemeinsamen Analyse im Rahmen des diesjährigen Wissenslabors Care-Flechtungen – Kämpfe verbinden eingeladen. Dabei trafen sich organisierte und nicht-organisierte Care-Arbeiter*innen aus Österreich und Deutschland an der Kunstuniversität Linz, um sich über die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der unbezahlten wie bezahlten Care-Arbeit auszutauschen und weitergehend zu vernetzen. Das Wissenslabor ist eine wiederkehrende Veranstaltungsreihe im Rahmen der Universität der Ignorant_innen4, welche von maiz 2014 gegründet wurde. Die Universität der Ignorant_innen möchte internalisierte Hierarchisierungen von Wissensbeständen sowie Einbahnstraßen des Wissenstransfers nach folgendem Motto aufbrechen: Nicht nur ich weiß, sondern auch die Anderen wissen.5 Dabei folgt sie der Prämisse, dass Wissensproduktion immer gesellschaftlich geformt und dementsprechend mit Machtstrukturen durchzogen ist; der vermeintlich ‚neutrale‘ Ort der akademischen Sphäre wird sich angeeignet und kritisch hinterfragt, ohne die Widersprüchlichkeiten der eigenen (Wissens)Räume zu leugnen. Entlang dieser Prinzipien wurde ein breites Austausch- und Vernetzungsprogramm aufgestellt, in dessen Zentrum die Verbesserung der Situation von Care-Arbeiter*innen stand

Von April bis Oktober 2022 trafen sich Mitarbeitende von maiz und daskollektiv sowie Verbündete regelmäßig, um sich über Ziele und mögliche Formate der Veranstaltung wie auch über Finanzierung, Raumsuche, Plakatgestaltung, Bewirtung oder Bewerbung auszutauschen. Diese sehr intensive und sorgfältige Planungs- und Vorbereitungsarbeit war die Basis für ein produktives und stärkendes Zusammentreffen von um die hundert Teilnehmenden.

 

Das Wissenslabor bestand aus drei Workshops und einer Gesprächsrunde, gefolgt von einer Abendveranstaltung mit der Vernissage der Ausstellung Schutzmantel gegen Rassismus6, Performances, Konzerten und einem DJ-Set. Eröffnet wurde die Veranstaltung mit einer berührenden Einleitung der maiz-Mitbegründerinnen Rubia Salgado und Luzenir Caixeta, in der die Kraft des gemeinsamen „Aus-dem-Schatten-Tretens“ betont wurde und die die Anwesenden durch den Tag begleitete.

In dem halbtägigen Workshop mit dem Titel Care-Arbeiter_innen und Verbündete weben eine neue Welt kamen Menschen unterschiedlichster Organisationserfahrung (u.a. maiz, das kollektiv, IG-24, Respect, Dokustelle Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus, LEFÖ) und Hintergründe zusammen, um folgende Fragen zu beantworten: Was wollen wir? Wofür kämpfen wir? Wie organisieren wir unseren Kampf? Was fehlt, was stört? Sollen/Wollen wir gemeinsam kämpfen? Wie kann das (nicht) funktionieren? An drei Tischen wurde dabei mithilfe der World-Café-Methode intensiv diskutiert und ein wichtiger Schritt in Richtung einer nachhaltigeren Vernetzung von Unterstützenden und Care-Arbeiter*innen gesetzt. Weitere Veranstaltungen sind geplant.

Mit dem zweiten Workshop Konvivialität als Potentialität7 wurde ein Raum der Selbstermächtigung für junge Migrant*innen geschaffen. In diesem von Esra Öszmen (EsRap) geleiteten Rap-Workshop konnten die Teilnehmenden mit autobiografischem Dichten und Rappen experimentieren und somit die eigene – und kollektive – Stimme finden und hörbar machen. Eine Teilnehmerin berichtet, sie habe mitgenommen, dass die Kunst ein gutes Vehikel für die Vermittlung von Gefühlen und Meinung darstellen könne.

Ebenso um Selbstermächtigung ging es im dritten Workshop, in dem Care-Arbeiter*innen mit gruppenbasierten Übungen Gefühle, An-/Spannungen und Gedanken rund um die Care-Arbeit bearbeiten konnten. Hierbei sollte dem gängigen Paradigma der Trennung von Körper und Geist entgegengewirkt und körperlichen Ausdrucksweisen über Gesten, Mimiken, Berührungen und Bewegungen Raum gegeben werden. Indem ein kollektiver Rahmen geschaffen wurde, um sich über negative wie positive Gefühle in Bezug auf sich selbst, andere und die Arbeit mit anderen auszutauschen, wurde die Brücke zwischen individueller Self-Care und kollektiven Handlungsstrategien geschaffen. Aus dem Raum ist die Erkenntnis hervorgegangen, dass Self-Care nicht unbedingt eine individualistische, einsame Beschäftigung sei, sondern alle betreffe und dass alle ein Recht darauf hätten.

Um kollektive Handlungsstrategien ging es auch in der Gesprächsrunde mit vier geladenen Gesprächspartner*innen, die den Abschluss des diesjährigen Wissenslabors bildete. Hier wurden die Stränge des gemeinsamen Analysierens im Laufe des Tages zusammengeführt und zu einer Frage nach der politischen Praxis zugespitzt. Die vier Gesprächspartner*innen fragten sich: Wie verbinden wir die notwendigen Kämpfe, um konkrete Verbesserung für Care-Arbeiter_innen zu erwirken?

Françoise Vergès (Politikwissenschaftlerin, Feministin und dekoloniale Aktivistin) fokussierte vor allem die Herausforderung der historisch gewachsenen, systematischen Unsichtbarmachung von Care-Arbeit mit kolonialem, patriarchalem Erbe: Es ist unablässig, dass Frauen – […] es sind meistens Frauen – diese [Care-]Arbeit leisten, […] damit unsere kapitalistische Gesellschaft funktionieren kann. Es ist in einer Art wichtig für die Leute, die davon profitieren, dass diese Arbeit unsichtbar bleibt.8Doch wie brechen mit der Unsichtbarmachung? Simona Durisova (IG-24, Sozialberaterin bei CuraFAIR, Koordinatorin des Projekts Care4Care) beschrieb die Strategie des von ihr mitbegründeten Vereins IG-24 (Interessengemeinschaft 24-Stunden-Betreuer*innen). Neben vielfachen Funktionen wie Beratung und öffentlichkeitswirksamer Kampagnenarbeit rund um das Konstrukt „Schein-Selbstständigkeit“ stellt IG-24 die Selbstorganisierung der 24-Stunden-Betreuer*innen dar. Selbstorganisierung stellt einen Bruch mit dem Status quo dar, um in der individuellen Erfahrung die unterdrückerische Systematik zu erkennen und die Stimmen der Betroffenen im Diskurs zu repräsentieren und hörbar zu machen. Doch für Durisova ist klar: Einen Verein zu gründen ist erst der Anfang. 9

Encarnación Gutiérrez-Rodríguez (Soziologin, Literaturwissenschaftlerin) strich insbesondere den das Individuum betreffenden Effekt der Selbstorganisierung, der sowohl maiz als auch IG-24 innewohnt, heraus: Das ist eine Arbeit der Stärkung, […] der Affirmierung des eigenen Handelns und Selbstbewusstseins.10 Diese Arbeit bliebe jedoch nicht auf der individuellen Ebene stehen, denn Care würde qua definitionem den Beziehungscharakter von menschlichem Leben und Sein hervorheben. Somit müssten Strategien und Visionen einen kollektiven Charakter haben. Luzenir Caixeta (Sozialethikerin, Mitgründerin von maiz, Referentin zu sozialen Bewegungen) wies darauf hin, dass in einer gerechteren Welt Care-Tätigkeiten und -Personen ins Zentrum gerückt werden würden; eben aufgrund ihres lebengebenden und -erhaltenden Charakters. Ein wichtiges Beispiel für eine solche Zentrierung stellt für Caixeta das von maiz gemeinsam mit ehemaligen Care-Arbeiter*innen ins Leben gerufene Kunstprojekt Schutzmantel gegen Rassismus dar. Dieses Projekt brachte an öffentlichen Orten des Linzer Stadtzentrums Fotografien in Plakatgröße an, welche die Protagonist*innen des Projektes abbildeten. Sie tragen einen Schutzmantel vor einem öffentlichen Gebäude ihrer Wahl, welches symbolisch für den systematischen, institutionalisierten Rassismus in Österreich gegenüber migrantischen und rassifizierten Körpern steht (bspw. Ausländeramt, Österreichische Gesundheitskassa, …). Der Mantel ist mit eigens angefertigten und ausgewählten Widerstandssymbolen bestickt. Die symbolische Aneignung des öffentlichen Raumes erzeugt einen disruptiven Effekt: anstelle der Fremddarstellung steht die Selbstdarstellung, anstatt der Unsichtbarkeit die Sichtbarkeit. Diese Form der [...] Repräsentationspolitik auf der Ebene einer kollektiven Auseinandersetzung, eines kollektiven Sprechens [...], wie von Gutiérrez-Rodríguez bezeichnet, sei Strategie und Vision in einem.11 Repräsentationspolitik im Rahmen der Veranstaltung wurde somit nicht nur über die bewusste Zentrierung der Care-Thematik und der betroffenen Körper verhandelt, sondern auch über die Art und Weise der Darstellung.

Kunstformen wie der Rap-Workshop, die Fotografie-Ausstellung Schutzmantel gegen Rassismus, bewegungstherapeutische Ansätze im Self-Care-Workshop, Musik-Acts und eine Performance aus der Sicht von Sexarbeiter*innen im Abendprogramm hatten ebenso viel Raum wie gesprochene oder geschriebene Sprachen. Somit folgte Care-Flechtungen – Kämpfe verbinden den Prinzipien der Universität der Ignorant_innen, welche alle Wissensformen als politisch relevant ansieht und Möglichkeiten der praktischen Anwendung und Umsetzung anstrebt, um die Welt zu verändern.

In diesem Sinne wurde an diesem Tag ein Stück Strategie und Vision verwirklicht, Care-Arbeit – und damit migrantisches, feministisches Wissen – zu zentrieren. Dass dieser Raum auch seine eigenen Grenzen und Widersprüche produzierte, war ebenso Teil der Diskussion. Die Vernetzung, die aus dem Tag entstand, scheint eine gute Grundlage für ein Weiterführen des Gesprächs über diese Widersprüchlichkeiten zu bilden. Als Feminist*innen sind wir sehr dankbar, Teil dieses Projekts gewesen sein zu dürfen. Wir wurden mit viel Vertrauen und Geduld eingewiesen und hatten viel Raum zur kreativen Mitgestaltung. Wir haben gelernt, was es bedeutet, trotz begrenzter Ressourcen auf immensen Support und Zusammenhalt zu stoßen, mit wie viel Leidenschaft, Überzeugung und Achtsamkeit an dieser Veranstaltung gearbeitet wurde – und wie groß die Freude und Motivation ist, die Vernetzung weiterzutragen.

 


 

Endnoten


1 Eine (Neu-)Überlegung meiner Position bringt mich dazu, mich in einer Art Dualität zu verorten, oder besser gesagt in einer Verflechtung von Privilegien und Nachteilen, die alle Aspekte meines Lebens und auch meine Arbeit bei maiz betreffen. Als Migrantin aus Spanien schreibe und arbeite ich aus einer privilegierten Position gegenüber anderen Migrant*innen von außerhalb der EU heraus. Gleichzeitig finde ich aber auch Gemeinsamkeiten.

2 Ich schreibe aus einer Situierung, die keine Rassismuserfahrungen macht oder direkt von Migrationsregimen beeinflusst ist. Meine universitäre Ausbildung, bundesdeutsche Sozialisierung, Organisierungserfahrung in Österreich beeinflussen meine Wahrnehmung und den Rückblick auf die Veranstaltung. 

7 Dieser Workshop wurde von dem Team des FWF-Peek-Forschungsprojektes – Marina Grzinic, Sophie Uitz und Jovita Pristovsek – in Zusammenarbeit mit maiz angeboten.

9 Ebd.

10 Ebd.

11 Ebd.

Großes weißes Tuch, auf dem in Handschrift steht: „Wie organisieren wir unseren Kampf? Was fehlt? Was stört?“ Ein paar bunte Stifte liegen schon für die Teilnehmenden des Workshops „Care-Arbeiter_innen und Verbündete weben eine neue Welt“ bereit.

Zwei Teilnehmende des Workshops „Konvivialität als Potentialität“ mit Mikrofon in der Hand. In diesem Workshop mit der Rapperin Esra von EsRap ging es darum, einen Raum der Selbstermächtigung für junge Migrant*innen zu schaffen.

Drei Teilnehmende des Welt-Cafés aus dem Workshop „Care-Arbeiter_innen und Verbündete weben eine neue Welt“. Eine Person spricht, die beiden anderen hören konzentriert zu.

Eine Person betrachtet eine orangefarbene Karte mit der Aufschrift „Kürzere Arbeitszeiten“.