Das Referat Genderforschung veröffentlicht unregelmäßig Blogbeiträge wie den folgenden. Diese Blogbeiträge dienen dem kritischen Austausch zu aktuellen Themen und repräsentieren nicht die institutionelle Position des Referats Genderforschung.
„Die neoliberale Universität ist multikulturell, gendersensibel und familienfreundlich – und, wenn es gerade passt, auch postkolonial, dekolonial oder sogar feministisch. […] Es stellt sich demnach die Frage: Wenn alles inkludiert wird, was ist dann das Problem mit der neoliberalen Universität?“ (Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Kien Nghi Ha Hutta, Emily Ngubia Kessé, Laufenberg, Schmitt 2016: 167)
Im Wintersemester 2019 habe ich mein Masterstudium in Gender Studies an der Universität Wien begonnen. Schnell bin ich auf die Widersprüchlichkeit und das Spannungsfeld zwischen Theorie und Praxis gestoßen, den Widerspruch zwischen dem kritischen Anspruch der Gender Studies und den neoliberalen Vorgaben der Universität. Aus diesen Erfahrungen, der eigenen Frustration und viel Austausch mit anderen Studierenden hat sich folgende Forschungsfrage für meine Masterarbeit ergeben: Wie wird die Umsetzung einer kritischen wissenschaftlichen Praxis innerhalb der Gender Studies von der zunehmenden Neoliberalisierung der Universität beeinflusst und was sind Umgangsweisen, Handlungsmöglichkeiten und Gegenstrategien?
Grundlage meiner Auseinandersetzung, anlehnend an postkoloniale, feministische Wissenschaftskritiker*innen, war das Verständnis von Wissensproduktion als politische Praxis. Wissensproduktion ist somit niemals objektiv, sondern immer Teil von und beeinflusst von gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen (vgl. u.a. Gutiérrez Rodríguez 2012, Mendel 2015, Hill Collins 2000, Castro Varela & Dhawan 2012). Wenn Wissen also systematisch Ausschlüsse und Hierarchien (re)produziert, ist es unerlässlich, sich der eigenen Erkenntnis- und Erfahrungsgrenzen sowie der gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse bewusst zu sein und diese zu reflektieren. Neoliberalismus ist dabei der gegenwärtige Modus des globalen Kapitalismus und verstehe ich in Anlehnung an Antke Antek Engel (2015: 14) als „komplexes Projekt“, welches ökonomische, politische und subjektivierende Prozesse verbindet und beeinflusst. Damit einher gehen der Abbau des Wohlfahrtsstaats, die Macht des Kapitals gegenüber dem Staat, die Privatisierung öffentlicher Güter sowie die Umstrukturierung und Prekarisierung von Lohnarbeit.
Methodisch habe ich mich an Überlegungen von Kathy Charmaz (2006) zur konstruktivistischen Grounded Theory orientiert und sieben Interviews mit Personen geführt, welche in den Gender Studies an der Universität Wien lehren, um mögliche Antworten auf meine Fragestellung zu finden. An dieser Stelle ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Lehrenden keine homogene Gruppe bilden und u.a. universitäre Position, persönlicher Zugang als auch gesellschaftliche Positionierung einen Einfluss auf das Erleben und Handeln haben. Die Stichprobe von sieben Interviews soll Anhaltspunkte bieten, aber nicht repräsentativ für Gender Studies insgesamt stehen.
Wissenstransformation, Gesellschaftskritik und Partizipation an universitären Strukturen
Die Gender Studies stehen in einem ambivalenten Verhältnis zur Neoliberalisierung, weil diese auch die Gender Studies als Disziplin sichert und überhaupt deren Existenz hervorbringt – da die Gender Studies zur Profilbildung von Universitäten beitragen (vgl. Encarnación Gutiérrez Rodríguez 2016: 169). Die Institutionalisierung bringt den Gender Studies und somit der feministischen Theorie gewisse Ressourcen und Geld. Mit diesen Ressourcen gehen jedoch auch Druck und Vorgaben einher. Dies waren unter anderem zentrale Themen in den Interviews mit dem Fokus darauf, wie die interviewten Personen mit dem benannten Spannungsfeld zwischen dem kritischen Anspruch der Disziplin und den Erfordernissen einer neoliberal verwalteten Universität umgehen und was Handlungsmöglichkeiten und Gegenstrategien sind.
Die Dominanz der neoliberalen Marktlogik wird in den Interviews sehr deutlich und hat sowohl Auswirkungen auf die Studienstrukturen und -inhalte als auch auf die einzelnen Personen und deren Gesundheit. Ein zentraler Punkt in den Interviews waren die Gender Studies im Spannungsfeld zwischen „Diversity“ Management und Gesellschaftskritik. So besteht einerseits der Anspruch seitens der Lehrenden, Studierenden Widerständigkeit im Denken und Handeln zu ermöglichen, und andererseits der Druck seitens der Universität, möglichst anwendungsbezogenes Wissen zu vermitteln und sie optimal für den Lohnarbeitsmarkt vorzubereiten. Das Diversitätsparadigma hat jedoch meist wenig mit Gesellschaftskritik zu tun, sondern entspringt konzeptuell dem Personalmanagement.
Distanzierung und De-/Politisierung
Innerhalb der Interviews waren in Bezug auf diese Spannungsfelder zwei Umgangsweisen zu erkennen: 1) Distanzierung vom politischen Anspruch der Gender Studies (De-Politisierung) oder 2) Distanzierung von den Vorgaben der Institution (Politisierung). Die Distanzierung vom politischen Anspruch der Gender Studies ist verbunden mit einer Verteidigung und Betonung der Wissenschaftlichkeit der Gender Studies und einer klaren Abgrenzung von Aktivismus. Die Distanzierung von den Vorgaben der Institution hingegen ist verbunden mit Frustration und Kritik an akademischer Wissensproduktion und den damit zusammenhängenden Machtverhältnissen.
Während einige die eigene Verstrickung in Machtverhältnisse klar benennen und als Verantwortung annehmen, wird sie von anderen negiert. Teilweise ist damit ein Festhalten an einer Vorstellung von Universität verbunden, welche kaum der Realität entspricht. Machtverhältnisse innerhalb feministischer (akademischer) Debatten werden heruntergespielt und Kritik wird teilweise nicht als Möglichkeit zur Auseinandersetzung und Reflexion angenommen, sondern als persönlicher Angriff oder als zu aktivistisch empfunden. Dies ist mitunter beeinflusst von gesellschaftlichen Machtverhältnissen innerhalb feministischer Debatten und auch der Neoliberalisierung der damit zusammenhängen Individualisierung. Wissenschaftliche Karrieren sind im Kontext der Neoliberalisierung als individuelle Karrieren ausgelegt und erfordern Selbstausbeutung. Das Herstellen und Fördern von Kollektivität und Solidarität wird somit strukturell erschwert.
Für jene, die sich stärker von der Institut Universität distanzieren, erschweren die prekäre Stellung der Gender Studies im universitären System, fehlende Ressourcen, unsichere Lohnarbeitsverhältnisse und der Legitimationsdruck seitens der Universität das Umsetzen einer kritischen wissenschaftlichen Praxis, was auch zu Frustration führt. Ein zentraler Punkt hier war das Verweisen auf Prozessualität und die Notwendigkeit, Kritik kontinuierlich zu erarbeiten und dabei auch sich selbst zu reflektieren.
Individualisierung und Solidarisierung
Insgesamt fehlt es an Räumen und ausreichend Ressourcen, um einen Austausch zwischen den Lehrenden zu ermöglichen – im Gegenteil wird Kollektivität durch die strukturell geförderte Individualisierung verunmöglicht. Stattdessen könnten sowohl die strukturellen Bedingungen als auch interne Kritik zu Subversion und Handeln anregen – sprich: zu kollektivem Handeln und einem konkreten Entgegenwirken gegen die strukturell geförderte Individualisierung und der damit einhergehenden Ent-Solidarisierung. Um diesem Ziel näher zu kommen, bräuchte es eine Anerkennung von Kritik als Wertschätzung, Selbstreflexion und ein konkretes Verlernen von Konkurrenz und Wettbewerb untereinander und die Priorisierung von Gesellschaftskritik und Kollektivität vor persönlichem Erfolg.
Die von der Neoliberalisierung geförderte Individualisierung führt dazu, dass oft nach persönlichen Bewältigungsstrategien gesucht wird, anstelle Strukturen zu kritisieren. Deutlich wird jedoch die Notwendigkeit, auf mehreren Ebenen anzusetzen, sprich: sowohl individuelle Handlungsmöglichkeiten zu erkennen, Inhalte zu kritisieren, Personen Zugänge zu ermöglichen und auf Ausschlüsse hinzuweisen als auch gleichzeitig materielle und strukturelle Bedingungen nicht aus dem Blick zu nehmen und wiederum nicht der neoliberalen Logik zu verfallen, dass alleine individuelles Handeln strukturelle Diskriminierung und Machtverhältnisse auflösen könne.
Kritik, Widersprüche und Differenzen innerhalb der Gender Studies sind somit wichtig für eine Weiterentwicklung des Fachbereiches. Diese sollten auch als solche anerkannt und angenommen werden. Es sollte konsequent anerkannt und kritisiert werden, dass es Machtverhältnisse innerhalb feministische (akademischer) Debatten gibt, und Wissenschaft schon immer zur (Re-)Produktion solcher Machtverhältnisse beigetragen hat. Um eine kritische, wissenschaftliche Praxis zu ermöglichen, braucht es insbesondere strukturelle Veränderungen. Einzelne Individuen können jedoch zu einer solchen Veränderung beitragen, indem sie Handlungsmöglichkeiten nützen, Widersprüche aufzeigen und Gesellschaftskritik priorisieren.
Literatur
- Castro Varela, María do Mar, Nikita Dhawan (2012): Postkolonialer Feminismus und die Kunst der Selbstkritik, in: dies. (Hrsg.): Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Unrast Verlag, 270–290.
- Charmaz, Kathy (2006): Constructing Grounded Theory: A Practical Guide through Qualitative Analysis. London [u.a.]: SAGE.
- Collins, Patricia Hill (2000): Black Feminist Thought. Knowledge, Consciousness and the Politics of Empowerment. Second Edition. New York/London: Routledge.
- Engel, Antke Antek (2015): Bilder von Sexualität und Ökonomie: Queere kulturelle Politiken im Neoliberalismus. Bielefeld: Transcript-Verlag.
- Gutiérrez Rodríguez, Encarnación (2012): Decolonizing Postcolonial Rhetoric, in: Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Manuela Boatcă, Sérgio Costa (Hrsg.), Decolonizing European Sociology. Transdisciplinary Approaches. London: Routledge, 49–67.
- Gutiérrez Rodríguez, Encarnación, Kien Nghi Ha, Jan S Hutta, Emily Ngubia Kessé, Mike Laufenberg, Lars Schmitt (2016): Rassismus, Klassenverhältnisse und Geschlecht an deutschen Hochschulen. Ein runder Tisch, der aneckt. Suburban 4, 2/3, 161–90.
- Mendel, Iris (2015): WiderStandPunkte: Umkämpftes Wissen, feministische Wissenschaftskritik und kritische Sozialwissenschaften. Münster: Westfälisches Dampfboot.