Das Referat Genderforschung veröffentlicht unregelmäßig Blogbeiträge wie den folgenden. Diese Blogbeiträge dienen dem kritischen Austausch zu aktuellen Themen und repräsentieren nicht die institutionelle Position des Referats Genderforschung.
Geschlecht liegt immer im Geschenk des Anderen. Sogar in meinem trivialen Bedürfnis mit „sie“ von den anderen angesprochen zu werden. McKenzie Wark (2019)
„Transgender in the Post-Yugoslav Space: Lives, Activisms, Culture“, herausgegeben von Bojan Bilić, Iwo Nord und Aleksa Milanović erscheint im Oktober 2022 bei Policy Press.
Der November 1995 war ein wichtiger Monat in der Geschichte der postjugoslawischen Region: In seinen ersten drei Wochen wurden Alija Izetbegović, Franjo Tuđman und Slobodan Milošević auf die Militärbasis in Dayton, Ohio, eingeladen, um ein Ende des Bosnienkriegs zu erreichen. Die drei Anführer beendeten eine Reihe erfolgloser Bemühungen und erzielten schließlich eine Einigung, die Bosnien und Herzegowina Frieden brachte. Einen Frieden, der die Teilung des Landes in drei Gebiete und die Festigung der ethnischen Zugehörigkeit als Hauptprinzip des politischen Lebens zur Folge hatte. Nur wenige Tage vor diesem lang ersehnten, wenn auch umstrittenen Ergebnis klagte der Internationale Strafgerichtshof der Vereinten Nationen für das ehemalige Jugoslawien die serbischen Befehlshaber Radovan Karadžić und Ratko Mladić an. Ungefähr zur gleichen Zeit unterzeichneten der kroatische Premierminister Hrvoje Šarinić und der serbische Vertreter Milan Milanović unter der Aufsicht des US-Botschafters Peter Galbraith und des UN-Vermittlers Thorvald Stoltenberg ein Dokument, das die bewaffneten Operationen in Kroatien beendete und den Weg frei machte für die Integration der unter serbischer Kontrolle stehenden Territorien in das neu geschaffene kroatische Rechtssystem.
So merkwürdig es auch erscheinen mag, das Alltagsleben im Norden Serbiens, wo ich in einer kleinen Stadt am Rande der Konflikte aufgewachsen war, ging inmitten solcher tektonischen Verschiebungen weiter. In einer mit Gewalt aufgeladenen Atmosphäre gab es dennoch einen Anschein von Ordnung, innerhalb derer sich das Undenkbare immer wieder vor das (Sur-)Reale schob. Als der postjugoslawische Raum eine beispiellose Abfolge von Staatsbildungen durchlief, lockerten die unausgesprochenen und zum Schweigen bringenden Normen, die unsere Gemeinschaft bestimmten, sporadisch ihren Griff und erlaubten den Ausgegrenzten, durch die Brüche des sozialen Gewebes in eine unerwartete Sichtbarkeit vorzudringen. So hatten serbische Fernsehzuschauer*innen im November 1995 als außergewöhnlichen Kontrapunkt zur maskulinistischen „Hochpolitik“, die uns in Jahrzehnte der Verwüstung trieb, eine seltene – in vielen Fällen die allererste – Begegnung mit zwei trans Frauen. Vjeran Miladinović Merlinka und Nenad Milenković Sanela wurden von der in Novi Sad ansässigen Journalistin Tatjana Vojtehovski eingeladen, über ihre Arbeit als Belgrader Straßenprostituierte zu berichten.
Angesichts der Live-Austrahlung der Show war Vojtehovski merklich angespannt, stellte jedoch eine Reihe von groben Fragen zu den privatesten Aspekten des Lebens ihrer Gäste. Auf solche neugierigen Eingriffe, die alles von Genitalien und Stimmveränderungen bis hin zu Operationen, Hormonprozentsätzen und Sexpraktiken umfassten, reagierten Merlinka und Sanela mit entwaffnender Aufrichtigkeit. Obwohl sie große Unterschiede hinsichtlich der Art und Weise zeigten, wie sie ihr Geschlecht und ihre Sexualität auslebten, dachten sie wahrscheinlich, dass ihre skandalöse Ehrlichkeit an diesem Abend ihr stärkster „Mittel“ war: Sie wussten, dass ihr Auftritt mitten ins Herz der bürgerlichen Heuchelei treffen und einen öffentlichen Aufschrei auslösen würde, aber vielleicht dachten sie auch, dass sie damit gleichzeitig eine intimere Unterstützung des Publikums gewinnen würden.
Dieses ungewöhnliche, einmalige Interview mit Merlinka und Sanela, auf das ich in den Folgejahren gelegentlich zurückkam, konfrontierte mich mit bis dahin unbekannten Feinheiten der Geschlechterdiversität. Sicherlich hatte ich bereits die unbarmherzigen Strategien kennengelernt, mit denen Mobber in der Schule versuchten, einige meiner Freunde*innen der immer strenger werdenden Geschlechternorm näher zu bringen. Ich selbst hatte Erfahrungen mit dem Preis, den man zahlen muss, wenn man nicht dem Kanon der Männlichkeit entspricht, besonders unter solch elektrisierten Umständen voller vermeintlich potenter Männer. Nie zuvor hatte ich jedoch Gelegenheit gehabt, zu erleben, wie von Fernsehstudioscheinwerfern beleuchtete Körper sich über vorgegebene Geschlechterskripte hinwegsetzen und wie diese faszinierende Praxis sogar auf manchmal inkonsistente, aber allgemein bejahende Weise artikuliert werden konnte.
Durch ihre bloße Präsenz feierten Merlinka und Sanela, die sich Anfang des Jahres in Želimir Žilniks bahnbrechendem Marble Ass selbst spielten, ein Fest der Vielfalt in einer Zeit, in der die ethnische Homogenisierung der Politik jeden bedeutungsvollen Inhalt entzog. Sie brachten uns nicht nur in die Nähe eines radikal anderen Lebens, sondern ermöglichten ein ungeahntes Eintauchen in trans Welten, die von Gefahren und Ungewissheit durchdrungen waren – und das heute noch sind. Als sie die hypnotisierende Energie derer entfesselten, die es sich leisten können, die Wahrheit zu sagen, weil sie so wenig zu verlieren haben, wurden sie zu einem Meilenstein in der zerbrechlichen Geschichte unserer Bewegungen. So standen sie an einem der Anfänge der gewundenen, aber belastbaren Befreiungslinie, die unsere Zeit durchquert, um mit anderen Strängen der Emanzipation in eine bessere queere und trans Zukunft zusammenzulaufen.
Diese Sendung war für mich und viele andere ein unerwarteter Einstieg in das Universum der Geschlechtsidentität, ein echtes, wenn auch desorientierendes Geschenk der Diversität, das unsere damals offensichtlichen und allgegenwärtigen Trennungen zwischen Männern und Frauen störte. Während ich sie sah, konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich mich mehr als zwei Jahrzehnte später mit zwei trans Freunden zusammenschließen würde, um einen Band über trans Leben, Aktivismus und die Kultur unserer rastlosen Region zusammenzustellen.
Mit diesem Buch haben wir versucht, emanzipatorische Gesten von unerfüllten Versprechen und aufpolierten Rassismen zu trennen, indem wir den (post)sozialistischen jugoslawischen Raum durch eine queer-trans Linse betrachten. Im Zuge dieser Lektüre wird Jugoslawien, ein ausgelöschter Staat, von vielen seiner eigenen Ausgelöschten wiederbelebt: Es erhält damit eine neue politische Aufladung und wird als politisches Projekt auf neuen Grundlagen legitimiert. Solche queeren Neuartikulationen (post)sozialistischer Erfahrung ermöglichen es uns, das Schweigen in Frage zu stellen, das sozialistische Geschlechterverläufe umgibt, damit abweichende Geschlechterpraktiken der Vergangenheit ein neues Leben beginnen können. Dies verbindet uns nicht nur (wieder) mit den fortschrittlichsten Strängen der transnationalen Geschlechter- und sexuellen Befreiung, sondern regt uns auch an, darüber nachzudenken – und zu handeln – um transformative Allianzen in der Gegenwart zu schmieden.
Bojan Bilić arbeitet als Lise Meitner Fellow in der Abteilung Gender Studies des Instituts für Bildungswissenschaft.