Ringvorlesung "Gender. Ambivalente Un_Sichtbarkeiten?"

Digitale Lehrveranstaltung

Aus Anlass der Einschränkungen für öffentliche Veranstaltungen der Universität Wien können wir die Gastvorträge der Ringvorlesung im Wintersemester 2019/20 nur einem eingeschränkten Personenkreis im Rahmen der digitale Lehrveranstaltung zugänglich machen. Wir bitten um Verständnis!

Download: Plakat Ringvorlesung 2020/21

Vortragsreihe im Rahmen der Lehrveranstaltung im Master Gender Studies und EC Anwendungen Gender Studies unter der Leitung von Elisabeth Holzleithner, Professorin für Rechtsphilosophie und Legal Gender Studies, Institut für Rechtsphilosophie der Universität Wien und Leiterin der Forschungsplattform GAIN.

Die Ringvorlesung 2020/21 will sich den komplexen und ambivalenten Prozessen widmen, die intersektional vergeschlechtlichte Un_Sichtbarkeiten herbeiführen. Sichtbar zu sein ist eine Voraussetzung dafür, politisch und sozial wahrgenommen zu werden, allerdings übersetzt sich Sichtbarkeit nicht automatisch in politische Handlungsmacht. Und was an Rechten und sozialer Akzeptanz gewonnen wurde, ist nie selbstverständlich gegeben. 

Ansatzpunkt der Überlegungen ist "das Sichtbare" als ein Problemkomplex – vor dem Hintergrund enormer globalisierter kultureller und sozialer Veränderungen, die durch die Ökonomisierung des Sozialen, durch (erzwungene) Migration, religiösen Pluralismus, neue mediale Technologien und die von ihnen erzeugten Narrationen angetrieben werden. Das "Sichtbare" ist nicht einfach gegeben, sondern das historisch spezifische und kontingente Ergebnis von Prozessen des Sichtbarmachens – und, im Gegenzug, des Unsichtbarmachens, an der porös gewordenen Schnittstelle von Öffentlichem und Privatem. Analysiert wird die Art und Weise, in der Un_Sichtbarkeiten genderspezifische und intersektionale Machtkonstellationen und Widerstände hervorbringen. Vor diesem Hintergrund können auch die Möglichkeiten transformativer Strategien zur Entwicklung von Handlungsmacht und Empowerment auslotet. Die Vorträge widmen sich diesen Spannungsfeldern aus unterschiedlichen Perspektiven.

Vortragstermine Wintersemester 2020/21

06.10.2020: Strategien der Sichtbarmachung von Diskriminierung im Recht - Ruth Bader Ginsburg 

Elisabeth Holzleithner, Universität Wien

Ruth Bader Ginsburg war die wohl bei weitem "sichtbarste" Juristin unserer Tage. Als "The Notorious RGB" ist sie, zumal in den USA, auch vielen Mädchen und jungen Frauen ein Begriff – und dient ihnen als Vorbild. Ihr Tod hinterlässt eine gewaltige Lücke. In diesem Vortrag wird gezeigt, wie Ruth Bader Ginsburg zu ihrer Sichtbarkeit gelangte. Er zeichnet nach, welche Strategien Ginsburg als Leiterin des Women's Rights Project der American Civil Liberties Union (ACLU) anwandte, um das Übel der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts sichtbar und jenen nachvollziehbar zu machen, die es zu überzeugen galt: männliche (Höchst-)Richter. Eingebettet wird diese Erzählung in jene Einflüsse, von denen Ginsburg selber zehrte, namentlich das Denken ihrer zu Unrecht fast vergessenen Juristinnenkollegin Pauli Murray, einer Intersektionalitätstheoretikerin avant la lettre. Dabei wird sich in der Folge auch die Frage stellen, ob und inwieweit Ginsburg in ihrem Denken die intersektionelle Komplexität von Diskriminierung angemessen aufgegriffen hat. – Mary Anne Case, Professorin an der University of Chicago Law School hat aus Anlass des Todes von RGB geschrieben: “Now we must learn to be, in every sense of the word, ruthless.” Gegen Ende des Vortrags wird überlegt, was das bedeuten kann – im Recht wie in der Politik. 

Univ-Prof.in Dr.in Elisabeth Holzleithner ist Universitätsprofessorin für Rechtsphilosophie und Legal Gender Studies an der Fakultät für Rechtswissenschaften der Universität Wien und u.a. Sprecherin des Forschungsplattform "GAIN" an der Universität Wien. 

20.10.2020: Un/Sichtbarkeit als queer-feministische Theorie und Praxis, oder: The "Gay Closet" revisited

Katharina Wiedlack, Universität Wien

Sichtbarkeit steht seit Anbeginn westlicher queerer politischer Aktivismen (Stonewall Riots und die erste Gay Pride Parade in NYC) im Zentrum öffentlicher Aktionsformen. Ein Teil der Politik der Sichtbarkeit ist Repräsentationspolitik. Ein anderer ist die Idee, dass ein Coming Out, also Sichtbarmachen der eigenen schwulen, lesbischen, bi, inter, oder trans* Identität nicht nur notwendig ist, um gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen und gleichberechtigt zu sein, sondern auch, um ein gutes, freies und glückliches Dasein zu leben. Lebensformen, die Un/Sichtbarkeit und das sogenannte "Gay Closet" wählen, werden als schamvoll, unfrei, unehrlich, nicht lebbar angesehen.

Auch die queere Theorie hat sich seit ihren Anfängen intensiv mit Unsichtbarkeit und dem "Closet" als repressive Daseinsweise auseinandergesetzt. Eve Kosofsky Sedgwick hat mit ihrer bahnbrechenden Studie „Epistemology of the Closet“ (1990) die binäre Konstruktion der Homo/Hetero Dichotomie und deren gewaltvolle Konsequenzen dargelegt. Nur durch die Sichtbarwerdung „des Homosexuellen“ als identifizierbare Identität, kann Heterosexualität als Norm geltend gemacht werden. Das „Gay Closet“ ist demnach ein prekärer Raum: Zugeständnis an eine Gesellschaft, die sexuelle und geschlechtliche Devianz bestraft und doppelt unterdrückerisch, da es die individuelle Freiheit einschränkt. Prekär ist es auch deshalb, weil Homophobie (genauso wie Transphobie) eine paranoide Machtform darstellt, die Homosexuelle (und Trans*, Inter oder anders non-normative Personen), als (meist undefinierte) Bedrohung ansieht, sie aufstöbern und sichtbarmachen will. Das stolze Heraustreten aus dem Closet und die Sichtbarmachung vielfältiger und fluider Identitäten mit vielfältigen Geschlechtern und sexuellen Praxen sowie die damit einhergehende Dekonstruktion der homo/hetero-Binarität hat sich innerhalb der Queer Theorie und im Anschluss an Kosofsky Sedgwick als Strategie der Wissensproduktion und als Mittel, die Unterdrückung queerer Minderheiten zu bekämpfen, entwickelt – und in zahlreiche Richtungen weiter ausdifferenziert. 

In vielen westlichen urbanen Gesellschaften haben die Strategien der Sichtbarmachung, des Coming Outs, der Pride Paraden etc. gesellschaftliche Veränderung bewirkt. In anderen westlichen und nicht-westlichen Gebieten hat Sichtbarkeit allerdings stark negative Konsequenzen für queere Lebensweisen. In meinem Vortrag werde ich besonders auf den derzeitigen postsowjetischen gesellschaftspolitischen Kontext eingehen. Homophobe Gesetze und öffentliche Gewalt machen oftmals Politiken schwul-lesbischer Sichtbarkeit unmöglich, und schwul-lesbische Repräsentationspolitik nach westlichem Modell stößt an ihre Grenzen. Auch für die wissenschaftliche Analyse erweist sich eine Orientierung an Minderheitenrepräsentation und queerer Sichtbarkeit als ungeeignet, um die existierenden Lebens- und Liebensformen und ihren Widerstand gegen Gewaltformen überhaupt erst zu erfassen. Forscher_innen und Aktivist_innen, die sich mit Widerstand gegen strukturelle und tätliche Gewalt gegen sexuelle und geschlechtliche Minderheiten in nicht-westlichen (Rodriguez 2018) oder westlichen nicht-urbanen, nicht-weißen, nicht-Mittelschichtkontexten (T. 2020) auseinandersetzen, problematisieren Sichtbarkeitsstrategien und bieten Alternativen an. Anschließend an solche Arbeiten werde ich versuchen, das „Gay Closet“ und queere Repräsentationspolitik in Hinblick auf derzeitige post-Sowjetische Kontexte und darüber hinaus neu zu denken.

Dr.in Katharina Wiedlack ist FWF- Senior Post-Doc Projektleiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien. PEEK Projektseite: https://magic-closet.univie.ac.at

03.11.2020 Burka? Wir steh'n auf Bikini! Ambivalente Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten in Debatten um Muslimische Körperverhüllung

Birgit Sauer

Als kritische queer-feministische Gender Studies-Studierende wollen sie das Wahlkampfplakat der bayrischen „Alternative für Deutschland“, von dem das Zitat im Titel des Vortags stammt, bestimmt nicht sehen. In Ihrer Imagination entstehen vermutlich Repräsentationen, die die Ambivalenz, ja die Widersprüchlichkeit von Enthüllen und Verhüllen, von Zeigen und Verbergen vor Augen führen. Auch in Österreich sind die politischen und öffentlichen Diskussionen um das Verbot Muslimischer Körperverhüllung in öffentlichen Räumen – Kopftuchverbote in Kindergärten und Schulen oder auch in Gerichten, Ganzkörperverhüllungen auf der Straße – heftig und kontrovers, befeuert nicht zuletzt von rechts-populistischen und konservativen Akteur_innen. Vor allem Vertreter_innen der FPÖ instrumentalisieren mit dem Verweis auf die Geschlechtergleichstellung Körperverhüllungen, um Muslimische Frauen als Opfer ihrer patriarchalen, gewalttätigen und vormodernen Männer zu zeichnen und damit „den“ Islam als den westlichen Werten widersprechend zu stigmatisieren. So richtig diese Diagnose ist, so komplex sind allerdings die Argumentationen für oder gegen Muslimische Körperverhüllungen. Der Vortrag will diese ambivalente Komplexität sichtbar machen und die schlichte, wenn auch richtige Kritik an rechts-populistischer Anti-Islam-Politik verkomplizieren.

17.11.2020: Tags, Wings & Uniforms: Ambivalent In_Visibilisations in Hulu’s The Handmaid's Tale

Sylvia Mieszkowski, Universität Wien

The dystopian regime of Gilead – in the TV version of The Handmaid’s Tale (since 2017) as in the eponymous novel by Margaret Atwood (1985) on which it is based – uses several visual markers to facilitate controlling its population. In the case of the handmaids, that is, the fertile women who have been seized by the state for a ‘re-population programme’ based on ritualised rape and sexual slavery, the most prominent of these visual markers are the red ear-tag, the white headgear known as ‘wings’ and the red garments. Different questions of in_visibility or in_visibilisation are attached to these three items, and I am particularly interested in their ambivalences. The tags, if seen in the context of 21st century piercing culture, could very well pass as body art and thus a form of self-expression (and given the pre-Corona phenomenon of ‘handmaids parties’ it is not to be ruled out that it might, one day, be embraced as such). In Gilead, however, several factors position it on the side of dehumanisation, alongside other visual markers (like branding) that originated as a practice of marking ‘human property’ slavery. There is a double origin to the wings the handmaids wear whenever they leave the house: in the notion, known to several cultures/religions, that covering women’s hair is a sign of (sexual) modesty; and in class-stratified dress codes, according to which this type of headgear identifies servants. For Gilead’s regime the wings serve the additional purpose of restricting the handmaid’s peripheral vision, which helps to disorient and isolate them. Yet, as several examples will demonstrate, the very same wings also protect the handmaids from having their facial expressions too closely monitored, which is instrumental in organising resistance. Clothes are colour-coded and tightly regulated in Gilead, according to gender and class: Commanders and guards wear black; aunts brown, middle- and upper-class wives blue/green, domestic servants and working-class people grey-green and handmaids scarlet. The colour red not only evokes sexuality (Nathaniel Hawthorne’s The Scarlet Letter comes to mind) but also makes the handmaids easy to spot in this surveillance-obsessed society. In addition, the uniformity of red dresses, sweaters, cloaks, scarves, gloves and umbrellas aids to eliminate the women’s individuality. Yet, as Offred puts it so succinctly when she observes “They should have never given us uniforms if they didn’t want us to be an army”, the uniformity of the red cloaks also produces unintended Foucaultian effects of counter-conduct, which this lecture is going to explore further.

Univ-Prof.in Dr.in Sylwia Mieskowski, Professor of British Literature am Department of English and American Studies. She specialises in British literature and its interaction with cultural theories, non-literary discourses, as well as cultural, political and popular debates and audio-visual media.

01.12.2020: Von Athleten, Erlösern und Heldinnen des Alltags. Performing Gender im Angesicht der Krise

Silke Felber, Universität Wien

Innerhalb des inszenierten politischen Pandemiemanagements kommt Frauen gegenwärtig eine paradoxe (Un-)Sichtbarkeit zu. Während sie als Politikerinnen, Ärztinnen und Virologinnen deutlich unterrepräsentiert sind, nehmen sie hingegen als Objekte der diskursiven Auseinandersetzung mit COVID-19 eine auffallend dominante Rolle ein. Mit der inflationären Hochstilisierung von Frauen als „Systemerhalterinnen“ aber geht eine perfide Reproduktion paternalistischer Stereotype einher, die Frauen ganz selbstverständlich mit Mutterschaft und (unbezahlter) Care-Arbeit in Verbindung setzt. Die Verhaltenserwartungen, die durch derartige Strategien kommuniziert werden, fordern und fördern die Übernahme traditioneller Rollen. Gleichzeitig, so die These, begünstigt die vordergründige diskursive Aufwertung von Frauen die Inszenierung antitoxischer Männlichkeit und unterstützt die auftretenden Akteur*innen dabei, sich als frei von sexistischen Tendenzen zu gerieren. Umgekehrt orientiert sich die politische Kriseninszenierung der (hauptsächlich männlich sozialisierten) Auftretenden an Konzepten der aufgabenbezogenen Kompetenz und Instrumentalität und bringt in diesem Kontext Figurationen des Athleten, des Übervaters, des Erlösers und des Oberbefehlshabers hervor, die wiederum die beschriebene Zurückdrängung von Frauen in alte, passive Rollenbilder vorantreibt. Ausgehend von diesen Überlegungen widmet sich der Vortrag folgenden Leitfragen: Wie wird Gender angesichts der pandemischen Gesundheits- und Wirtschaftskrise von politischen Repräsentant*innen performt? Auf welche choreographischen, ikonographischen und sprachlichen Elemente stützt sich die intermediale Apparatur dieser Performance(s)? Welche geschlechtlichen Rollenbilder werden im Zuge von COVID-19 implementiert bzw. perpetuiert? Und welche sportlichen, religiösen und militärischen Metaphern schreiben sich in den männlich-autochthon inszenierten Macht- und Rettungsdiskurs ein?

Dr.in Silke Felber forscht und lehrt am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Als Elise Richter-Stelleninhaberin des Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF beschäftigt sie sich mit dem Fortwirken der griechisch-antiken Tragödie im Theater Elfriede Jelineks.

19.01.2021: Geschlecht und Klasse. Überlegungen zu ambivalenten Unsichtbarkeiten entlang Kristine Bilkaus Roman Die Glücklichen

Susanne Hochreiter, Universität Wien

Zu Beginn ist es ein kaum sichtbares Zittern, später eine tiefe existenzielle Erschütterung. Als die Cellistin Isabell und der Journalist Georg ihre Anstellungen verlieren, zerbrechen Sicherheiten und Selbstverständnisse – am Ende beinah ihre Beziehung. 

Kristine Bilkau entwirft in ihrem Roman (2017) ein differenziertes Gegenwarts- und Generationenporträt von Menschen einer bedrohten Mittelschicht. Das Buch stellt die Klassen- und Geschlechterfrage implizit – in der Art, wie Georg und Isabell mit dem Verlust an Einkommen, an Sicherheit und Zukunftsperspektive und dem steigenden existenziellen Druck umgehen, aber auch darin, welche Hoffnungen und Zukunftsfantasien die Protagonist*innen entwickeln. Ein Leitmotiv des Textes ist Un_Sichtbarkeit: der Eindruck von Normalität soll gewahrt werden, Probleme werden verschwiegen, Wünsche und Begehren verheimlicht. Was sichtbar ist und was unsichtbar erscheint als zentrales Element von sozialer Zugehörigkeit, von Status und damit von (vermeintlichen oder tatsächlichen) Handlungsmöglichkeiten. 

Deutlich wird in Bilkaus Buch, dass weder Geschlecht noch Klasse klar fassbare Kategorien sind, die imstande wären, die Verwobenheit vielfältiger sozialer Faktoren zu beschreiben. Geld spielt, wenig überraschend, eine große Rolle. Was mach- und lebbar ist und was nicht, wird wesentlich davon bestimmt, ob es leistbar ist. Aber es geht auch darum, welche Vorstellungen von Leben, von Arbeit, von Familie etc., die Protagonist*innen haben und welche Ressourcen ihnen abseits ökonomischen Kapitals zur Verfügung stehen. 

Im Vortrag wird mit Bezug auf den Roman danach gefragt, ob und inwiefern welcher Begriff von „Klasse“ heute in der Diskussion über soziale Ungleichheit sinnvoll erscheint und wie ein solches Klassenverständnis mit „Geschlecht“ zusammengedacht werden kann: Dies angesichts des Umstands, dass der Begriff der Klasse wieder Konjunktur hat, aber auch mit Bedacht auf zahlreiche Probleme, die er – als „Unruhekonzept“ (Joseph Vogl) – mit sich bringt.

Univ-Ass.in Dr.in Susanne Hochreiter ist Literaturwissenschaftlerin am Institut für Germanistik der Universität Wien, Arbeitsschwerpunkte im Bereich der Neueren deutschsprachigen Literatur sowie in Gender Studies und Queer Theory.